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Warum es stimmt.

Man hört immer, dass es Blödsinn sei, dass alles früher besser war. Das es Etwas sei, das Ältere sagen, die alles verklären und vor allem ihre Jugend. Verbitterte ewig gestrige.

Leute, die Veränderungen nicht leiden können, an ihre Routine festhalten, Fortschritt-Muffels, kurzum absolut rückwärtsgewandte Nervensäge!

Und es stimmt, dass es sie gibt die Verklärer*innen. Wenn man sie zuhört, hat früher, und man weiß nie wann dieser Früher war, alles besser funktioniert. Vor allem war die Jugend besser erzogen, besser gekleidet und hat gemacht was man tun musste, um ein ordentliches Leben zu haben. Oder sie war phantasievoller, rebellierender und überhaupt schöner.

Und es stimmt, dass früher früher war, weil heute, heute ist und die Gesellschaft sich halt wandelt.

Und es stimmt auch, dass Vieles Was es heute gibt, gab es auch früher. Es gab Arbeit und Arbeitslosigkeit, renovierte und sanierte Gründerzeitwohnungen und Bruchbuden, geschminkte Frauen und geschniegelte Jungen, Frauen, die sich nicht dem Geschlechterkanon angepasst haben und Jungen ebenso, Afro- und weiße Deutsche, ruhige Sonntage und wilde Nächte, Angeber*innen, Umweltsauereien, verdorbenes Fleisch, Technologiefeinde, eine verbürgerlichte Mittelschicht, die alles Mögliche verklärt hat und rückwärtsgewandte Nervensäge!

Und wenn es doch stimmen würde, dass es früher besser war? Wäre es nicht niederschmetternd?

Doch wenn man sich Berlin heute anguckt, könnte es – eventuell – den Eindruck erwecken, dass es früher besser war,

Aber woran kann man es überhaupt messen? Heute habe ich entschieden alles aufzuschreiben, eine Art Liste zu verfassen, dessen was früher in Berlin und anderswo besser war.

Also fangen wir mit meinem Standort an. Ich sitze an einem Schreibtisch vor dem Computer, neben mir sind noch ein Laptop, ein Tablett und zwei Smartphones, eins für die Arbeit, eins fürs Private (aber es ist nicht so einfach zu trennen). OK, sehr viel früher, saß ich ohne Rechner am Schreibtisch aber der Großteil meines Lebens saß ich gegenüber eines Netzkastens, aber der anderen Kram, der war nicht da. Ich habe weniger Zeit damit verbracht auf unterschiedlichen Tastaturen zu hauen und zu wischen. Dafür habe ich viel mehr Zeit in Küchen verbracht und hatte komischerweise die Zeit mich mit Küchenbesucher*innen zu unterhalten.

Das Zimmer in dem ich mich befand – und die Küche – war auch meistens größer und die Miete sowieso billiger. Ansonsten sah mein Zimmer mehr oder weniger ähnlich aus, vielleicht war mehr Unterwäsche auf dem Boden und vielleicht hatte ich weniger Möbeln aber im großen und Ganzen alles gleich. Bin ich also in der Zeit stecken geblieben?

Wenn ich aber meine Privatsphäre verlasse und mich ins eigentliche Berlin begehe, kann es in der Tat sein, dass das Umfeld mir etwas befremdlich vorkommt.

Links und rechts, vorne, fast überall laufen Gestalten, die brand neue saubere Kleidungstücke anhaben, schick aber originell genug um die scheuen Blicke zu fangen. Die Haare sind professionell frisiert und der kleine Hund schmückt die Leine die ihn hält. Diese atemberaubenden Komparsen laufen schnell zur Arbeit oder sitzen mit Laptops in Cafés, trinken ausgesuchte Kaffeesorten und essen wohlschmeckende Karamellkuchen. Sowas, aber sowas gab es wirklich nicht!

Nein. Früher haben in Berlin die Kuchen nicht sonderlich gemundet, Berliner wussten nicht, dass es Mehlspeisen gibt, die anders als eine süße Betonmischung schmecken können und es war deren Verlust. Der Kaffee war auch nicht die große Stärke der Stadt.

Doch diese Stadt hatte viele Cafés und Kneipen. Dort wurde schlechtem Kaffee und billiges Bier getrunken, laut Musik gehört und abgenutzte Klamotten getragen, mensch wurde auffallend betrunken und hat sich doch mit dem Nachbachtisch anfreundet.

Und könnt ihr euch vorstellen? Es war einfach einen Platz in einer Kneipe zu finden. Schlangen waren eine vermeintliche DDR-Sitte und man durfte sogar stundenlang oder die ganze Nacht sitzen bleiben. Die Kneipen waren mit den Bordmitteln gestrickt, alle unterschiedlich und oft phantasievoll, wie das eine, dass vollkommen Rot gestrichen war mit vielem Goldschnickschnack verziert oder das andere, dass runde Metallgerüste hatte, in denen man klettern und sich niederlassen konnte. Aber sie waren nicht der Ort, vor denen man in der Kälte steht, weil man nicht auf der Gästeliste steht, in denen alle mit den neuesten Snickers, Jacken und Taschen wetteifern und den Eindruck haben, dass sie ja am hipsten Ort in der hipsten Stadt der Welt sind.

Berlin war dreckig! Es hatte viel mehr Freiräume, war dementsprechend viel entspannter, doch weniger Menschen wollten hin. Seltsam…

Weiter in meiner Liste: die Clubs. Heute reden alle darüber, dass die Clubszene – weil es eine Szene ist – das ist was Berlin so reizvoll macht; Dass es ein Kulturgut ist und kein Weltkulturerbe werden soll, auch kein immaterielles, oder doch ? Kurzum es ist ein Wirtschaftsfaktor und ist doch von Verdrängung und Aussterben bedroht. Heute darf mensch Stundenlang in einer Schlange stehen, viel Geld ausgeben, sich zu der Jetset-Club-Community gehörig fühlen, eventuell echte Wesen aus der Künstlerelite sehen, vielleicht sogar welche ansprechen und kontrolliert tanzen. Und woher kommen diese Clubs?

Daher, dass es viele billige oder besetzte Räume gab, wo Leute Parties organisiert haben, weil sie eben Lust hatten diese zu organisieren, ihre Musik zu spielen und darauf unkontrolliert zu tanzen. Ok, es ist ein bisschen vereinfacht dargestellt aber das gab es und nicht wenig.

Vom Club zurück zur Wohnung, nämlich in die WG. In einer WG zu wohnen – also in einer W-o-h-n-g-e-m-e-i-n-s-c-h-a-f-t – war meist eine bewusste Wahl. Ja, mehrere Menschen wollten zusammen wohnen. Zusammen essen, zusammen trinken ab und zu zusammen tanzen und es war nicht schlimm, dass mensch den Beziehungsstreit seines Mitbewohner gehört hat. Es war auch nicht schlimm, dass man nicht nackt durch die Wohnung rennen konnte (es sollen es Leute trotzdem gemacht haben). Ob aus Deutschland oder woanders kommend, wussten wir das Zusammenwohnen bereichernd ist und dass wir anders wohnen wollten als vorgesehen war: allein, als Paar oder Familie.

Diese Woche hat die erste Plattform, die Mitbewohner*innen per Algorithmus sucht, eine breite angelegte Werbekampagne begonnen.

Apropos Technologie. Berlin war eine Stadt, die wirtschaftlich nicht besonders erfolgreich war, es war nicht besonders lustig Arbeit suchen zu müssen… Heute wo Städte sich glücklicherweise vermarkten können, macht sich Berlin für das sogenannte Techkapital attraktiv und anzüglich. Es hat noch Potential. Große und kleine Internetfirmen Sprießen in alten Gewerbehöfe, ehemaligen Schulen und Feuerwachen, in Wohnungen und in glänzenden Bürowüsten. Die ehemaligen Mieter*innen?

Amazon kommt nach Berlin! Yuhou! 120 qm hoher Büroraum, tausende hoch ausgebildete, hoch motivierte, Laptop trinkende und Kafeetragende, erzwungenermaßen gutgelaunte flexible flinke Mitarbeiter*innen. Auf dem Gelände des Flughafentegels wird ein zukunftsweisender Technologiepark entstehen. In Siemensstadt wird a new Siemensstadt entwickelt, ein Siemensstadt 2.0 – wie altmodisch – ein Zukunftscampus für Forschung, Büros und Wohnen. Der nutzlose Gasometer Schönebergs will Tesla in ein Design und Entwicklungszentrum umwandeln. Endlich ist die Zukunft angekommen und öffnet uns ihre Arme! Früher haben übrigens nicht so viele Leute auf der Straße leben müssen aber es ist vielleicht ein anderes Thema?

Es ist das Letzte in meiner Liste für heute, morgen kommen noch die Anti-Abtreibungsproteste, die AfD-Wähler*innen und die Nazischläger*innen, der Autoverkehr und die Verfassungsklage gegen den Mietendeckel.

Es könnte doch stimmen, dass es früher ein bisschen besser war, oder auch nicht. Es ist einfach in vieler Hinsicht schlimmer geworden und es nicht niederschmetternd. Doch was man daraus macht, ist eine ganz andere Sache.