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Entkommen

Gestern fahre ich zurück nach Hause, oder eher zu meinem Freund, denn ich habe zurzeit kein Zuhause, ich fahre kurz und ganz langsam auf dem Bürgersteig denn ich bin ängstlich und ich möchte nicht von den Autos überfahren werden.

„BÜRGERSTEIG!“ schreit mir ein Fußgänger erregt. Somit meint er, mache ich was streng verboten, möchte Fußgänger töten, aber vor allem benehme mich bestimmt auf verfassungswidrige Weise.

Abends bei Nachteinbruch laufe ich mit meinem Freund auf der leeren Straße. Hinter uns klingelt ein Fahrrad. Es klingelt Sturm.

„STRAAAAßE!“ schreit eine richtig verärgerte Kehle ohne Spur von Ironie.

Heute meint mein Freund, er hätte es satt, dass ich ihm Vorwürfe mache, obwohl er alles richtig machen würde. Ich entgegne ihm, dass ich es satt hätte alles richtig zu machen, obwohl er mir Vorwürfe machen würde.

Wenn ich die Rechthaber satt habe, gehe ich zum Omid.

Omid heißt Hoffnung auf Persisch. Es ist eine kleine Kneipe im Wedding, die vor einem halben Jahr eröffnet hat. Dort hat mir noch niemand gesagt, ob ich richtig oder falsch bin, liege oder habe.

Stets ist hier ein freier Platz, guter Kaffee, ruhiges Musikgeklimper und Menschen die sich über Zusammenleben unterhalten. Orientalische rot-graue Teppiche an den Wänden, dunkle veraltete Holzsofas. Politische Plakate und Flyer runden das Ganze ab und vermitteln mir das Gefühl, dass ich am richtigen Ort bin.

Einer der Cafébetreibern spielt auf einem Saiteninstrument, er hört auf, um mir einen Café zu machen und spielt weiter. Der andere lächelt, während er mir den Kaffee reicht, später lässt er mich von seiner letzten Kuchenkreation – Erdnuss-Schokolade – kosten.

Draußen wird geraucht, ein Mann sitzt in der Kälte und liest einer Freundin aus einem Buch vor.

Ich kann stundenlang dort sitzen, schreiben, und gleichzeitig den Konversationen lauschen.

Das Omid hat eine „Kiezküche“: für drei Euro reichlich und lecker essen. Ein junger Mann bedient sich und redet mit den Wirten über Café-betreibende linke Kollektive. Welche Kaffeesorte auswählen? Und über Vereinsräume, die Bebauungsversuche des Tempelhofer Felds, selbstverwaltete Fahrradwerkstätten…

Ein gepflegter Mann kommt rein, einer der Wirten und seine Mitbewohnerin setzen sich mit ihm hin. Es geht um den Jobcenter und Bleiberecht. Die Mitbewohnerin empfiehlt, zu einer besonderen Sozialberatung zu gehen. Der Wirt sagt, dass er schreiben wird, dass er ihm Geld geliehen hat, denn laut dem Jobcenter besteht das Problem darin, dass der Betreffende letzten Monat kein Geld verdient hat. Sie reden weiter, leise, sanft.

Eine Stunde später ist das Café leer, ich sitze immer noch da mit dem musikspielenden Wirt. Nach und nach kommen neue Besucher*innen, eine junge Frau, eine ältere, ein Mann mittleren Alters,…

Sie sitzen jetzt alle mit dem Wirt zusammen und diskutieren über die Rückmeldung, die sie in Bezug auf ihre Vereinssatzung bekommen haben. Nur die junge Frau spricht akzentfrei Deutsch. Sie versuchen, die Einwände des Amts zu verstehen – gibt es was zu verstehen? – und welche Strategie sie verfolgen können. Jeder wird angehört. Es scheint klar, was das Problem sein könnte und doch vollkommen unklar:

„Wir können über Tatsachen aufklären aber nicht über Missstände“.

„Keine Revolution machen“.

„Warum?“ sagt der Wirt und erwartet keine Antwort.

Die zwei Männer, die das Omid aufgemacht haben, kommen aus der O-Platz-Bewegung.

O-Platz, die meistens die hierhin kommen wissen, was es heißt.

Vor ein paar Jahren, 2012-2014, hatten sich Geflüchtete aus dem Lagersystem organisiert. Sie waren von Würzburg, wo ein Geflüchteter sich das Leben genommen hatte, nach Berlin marschiert. Manche von ihnen hatten sich auf dem Oranienplatz in Berlin Kreuzberg niedergelassen, und wurden von einem Teil der Berliner Bevölkerung unterstützt.

Die Geflüchteten waren nicht zu vertreiben, wollten nicht mehr als „Niemand“ betrachten werden, vor sich hin krepieren. Sie wollten Rechte.

Sie organisierten Demonstrationen, Besetzungen, Konferenzen, Hungerstreiks…

Als überdeutlich wurde, dass trotz allem die politische Klasse, sie bestenfalls an die Ränder von Berlin vertreiben, schlimmstenfalls abschieben würde, gipfelte das Ganze mit der Besetzung der Schule der Ohlauerstr. unweit des O-platzes, und dem Versuch der polizeilichen Räumung. Bei dem Polizeieinsatz flüchteten Geflüchtete aufs Dach, der von ihnen bewohnten Schule, und drohten zu springen, wenn ihnen kein Bleiberecht gewährt werden würde. Neun Tage lang kreisten die Hubschrauber über die Schule, während unten – von der Polizei abgeriegelt – Tag und Nacht demonstriert wurde, und europaweit die Augen der Medien auf das Dach gerichtet waren.

Nicht eingehaltene Versprechen wurden gemacht, die Schule wurde nicht sofort geräumt, ach ja, und ein karitatives Zentrum wird womöglich auf dem Gelände der Ex-Schule, Ex-Zufluchts-, Ex-Organisierungsort entstehen. Sicher ist, dass das nächste Ungeheuer das Thema der O-Platz-Geflüchteten, abgelöst hat.

Hier, in dieser Kneipe, wissen jedoch die Meisten, was O-Platz bedeutet und dass es außer Revolution kein Entkommen gibt.