Psychologie einer Großstadt

Aus dem Jahr 2020

In der Psychologie, zumindest in derjenigen die für Laien nachvollziehbar ist, wird gerne mit Phasen gearbeitet. Dabei geht es oft darum sich an einer schockartigen Situation zu gewöhnen und anzupassen. So zum Beispiel die Sterbephasen von Elisabeth Kübler-Ross, „Nicht-Wahrhaben-wollen“, „Zorn“, etc. bis zur Zustimmungsphase. Oder die Phasen des Kulturschocks von Kalervo Oberg die von „alles super prima„ über „alles total bescheuert“ zu „es geht doch“ gehen. Es gibt auch die Phasen, die wir alle durchlaufen bevor wir produktive Mitglieder des alltäglichen Wahns werden, wie Freud sie uns lustvoll nahegebracht hat: die orale Phase, die narzisstische Phase, die anale Phase, die phallische Phase oder für diejenigen, die wissen, dass es auch Vaginas gibt, die genitale Phase, usw.

Bei Freud geht es auch darum einen Schock zu verarbeiten, nämlich den Schock der Geburt. Ein Prozess das uns Lebenslang in Anspruch nimmt, bis wir nichts mehr verarbeiten müssen.

Das Phasensystem ist leicht verständlich und kann auf alles möglich angewandt werden. Auf die Lebensabschnitte oder -phasen von Individuen, als auf ganze Gesellschaften, sowie auf gesellschaftliche Errungenschaften – Kunst, Wissenschaft, Organisationen – und auch für klinische Studien, für Mediationen und Meditationen, für Wirtschaftskrisen, für Fasten und für die Weimarer Republik.

Städtisches Leben durchläuft auch Phasen und so auch Berlin seit der Schockstarre des ersten Corona bedingten Lockdowns im Frühling 2020.

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Wer ohne Syndi ist…

Aus dem Jahr 2020

Das Syndikat wurde verkauft. Alles nur gekauft?

Das Syndikat in der Weisestr. Neukölln wurde verkauft und wird es nicht überleben.

Das Syndikat gibt es seit über 30 Jahren, es ist nicht nur eine Kneipe in Berlin Neukölln, es ist es ein Lebensgefühl und eine räumliche Realität.

Manche sagen, dass es eine Punkrock-Kneipe ist, andere eine Billiardkneipe und seit einigen Jahren sagt man, dass es eine Kiezkneipe ist. Was soll eine Kiezkneipe sein? Vermutlich keine Kneipe, in die man geht, um gesehen zu werden. Obwohl man dort ziemlich viele bekannte Gesichter sieht. Das Kneipenkollektiv vom Syndikat sagt, dass es Kultur von unten verteidigt. Jedes mal frage ich mich, welcher Kulturbegriff dort bedient wird. Gewiss wird mensch am Tresen bedient, und zwar gutes billiges Bier und alle möglichen Getränke, gut und billig. Sich in der Kneipe zu treffen, sich einfach dort treffen zu können und möglicherweise einen Großteil der Nacht bleiben zu dürfen, ist bestimmt ein Kulturgut. Außerdem liegt dort viel wertvolle Literatur. DIY Flyer, Zeitschriften, Leaflets, Hefte, nochmals Flyer zu Veranstaltungen und Aktionen, die in der Stadt los sind. Es ist also sowohl eine Bierkneipe als auch ein Informationszentrum.

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Das Mädchen, das durch die Zeit sprang

Frau Lorenz und Herr Lorenz sind vom Lehrer ihrer zwölf jährigen Tochter Nina in die Schule bestellt worden.

Herr Mahner, ein junger engagierter Lehrer hatte ihnen gesagt, dass er gerne mit ihnen überlegen wollte wie Nina sich besser auf die Schule fokussieren könnte. Vom Lehrer bestellt zu werden ist immer eine ärgerliche Angelegenheit egal, ob er das gut meint oder nicht. Man weiß nie genau was er bemängeln wird, denn er ja Leute nicht bestellt um ausschließlich ihre Kinder zu loben. Ist Schule nicht die Kunst Mängel zu entdecken? Und man weiß auch nicht, ob der Lehrer erzählen wird, dass das eigene Fleisch und Blut so verdorben sei, dass es nur mit äußerter Anstrengung gerettet werden kann und man hat ja sonst genug Sorgen. Das dachten auf jeden Fall Ninas Eltern auf den Weg zur Schule. Nina, begleitete sie, und erzählte von der letzten Klassenarbeit in Physik, dass es ihr gefiel Lichtphänomenen zu beschreiben, und es sei nicht ihre Schuld, dass sie keine eins bekommen hatte. Die Eltern hörten freilich nicht zu.

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Warum es stimmt.

Aus dem Jahr 2019

Man hört immer, dass es Blödsinn sei, dass alles früher besser war. Das es Etwas sei, das Ältere sagen, die alles verklären und vor allem ihre Jugend. Verbitterte ewig gestrige.

Leute, die Veränderungen nicht leiden können, an ihre Routine festhalten, Fortschritt-Muffels, kurzum absolut rückwärtsgewandte Nervensäge!

Und es stimmt, dass es sie gibt die Verklärer*innen. Wenn man sie zuhört, hat früher, und man weiß nie wann dieser Früher war, alles besser funktioniert. Vor allem war die Jugend besser erzogen, besser gekleidet und hat gemacht was man tun musste, um ein ordentliches Leben zu haben. Oder sie war phantasievoller, rebellierender und überhaupt schöner.

Und es stimmt, dass früher früher war, weil heute, heute ist und die Gesellschaft sich halt wandelt.

Und es stimmt auch, dass Vieles Was es heute gibt, gab es auch früher. Es gab Arbeit und Arbeitslosigkeit, renovierte und sanierte Gründerzeitwohnungen und Bruchbuden, geschminkte Frauen und geschniegelte Jungen, Frauen, die sich nicht dem Geschlechterkanon angepasst haben und Jungen ebenso, Afro- und weiße Deutsche, ruhige Sonntage und wilde Nächte, Angeber*innen, Umweltsauereien, verdorbenes Fleisch, Technologiefeinde, eine verbürgerlichte Mittelschicht, die alles Mögliche verklärt hat und rückwärtsgewandte Nervensäge!

Und wenn es doch stimmen würde, dass es früher besser war? Wäre es nicht niederschmetternd?

Doch wenn man sich Berlin heute anguckt, könnte es – eventuell – den Eindruck erwecken, dass es früher besser war,

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Offene Verstecke

Aus dem Jahr 2019

Versteck Nr. 1
Schon lange treibe ich mich auch mit dem Gedanken, safer im Internet unterwegs zu sein. Das ist ein seriöses Thema und nicht einfach. Nicht umsonst stellen wir alle – mit Ausnahme des Nachrichtendiensts und ein paar Nerds – alles aber wirklich alles und ohne Vorsichtsmaßnahmen ins Netz. Das ohne jegliches Bedenken darüber, wer das alles nutzen oder lesen wird.
Ich lasse mir schon seit Monaten erzählen, was wohl zu machen wäre, damit ich bestimmen kann, wer weißt, was ich meiner Mutter schreibe, was ich lese, was ich bei dem letzten Telefonat gesagt habe, wo ich bin oder was ich denn von der AFD halte. Meine Freund*innen in der Türkei schreiben seit geräumiger Zeit auch nur noch über die Familie oder den Job.

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Offene Verstecke

Aus dem Jahr 2019

Versteck Nr. 2
Schon lange bin ich nicht mehr clubben gegangen. Samstag ist es soweit, Ich gehe mit meinem Kumpel Thomas in die Mehlfabrik!
Der Club macht um 22 Uhr auf. So früh können wir selbstverständlich nicht hin aber um halb zwölf stellen wir schon unsere Fahrräder in die enge Gasse, die zum Club führt. Wir sehen nicht den Eingang, die zwei Schlangen, die ihn ankündigen schon. Links die Schlange für die Gäste, rechts die für das gemeine Partyvolk. Wir gehören wohl zum letzterem und als solches sind wir bald in einem
Affenkäfig: feinmaschige Gitter umzäunen uns und bilden einen Tunnel, aus dem Niemand rein oder raus kann. Vielleicht um zu verhindern, dass die aus der Gästelisteschlange zu uns rüber springen?
Unsere Schlange ist verhältnismäßig kurz, wir warten trotzdem 40 Minuten bis am Ende des Käfigtunnels ein riesiger Affe erscheint.

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Entkommen

Aus dem Jahr 2019

Gestern fahre ich zurück nach Hause, oder eher zu meinem Freund, denn ich habe zurzeit kein Zuhause. Ich fahre kurz und ganz langsam auf dem Bürgersteig denn ich bin ängstlich und ich möchte nicht von den Autos überfahren werden.

„BÜRGERSTEIG!“ schreit mir ein Fußgänger erregt. Somit meint er, mache ich was streng verboten, möchte Fußgänger töten, aber vor allem benehme mich bestimmt auf verfassungswidrige Weise.

Abends bei Nachteinbruch laufe ich mit meinem Freund auf der leeren Straße. Hinter uns klingelt ein Fahrrad. Es klingelt Sturm.

„STRAAAAßE!“ schreit eine richtig verärgerte Kehle ohne Spur von Ironie.

Heute meint mein Freund, er hätte es satt, dass ich ihm Vorwürfe mache, obwohl er alles richtig machen würde. Ich entgegne ihm, dass ich es satt hätte alles richtig zu machen, obwohl er mir Vorwürfe machen würde.

Wenn ich die Rechthaber satt habe, gehe ich zum Omid.

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Donkey Rides rettet die Welt

Berlin erster Mai 2019. Dieses Jahr findet das zweite Mal eine Demo in Grunewald statt.

Das Programm des Tages: vormittags DGB-Demo, nachmittags um 13 h Jugendwiderstand in Neukölln und „My Gruni“ S-Bahnhof Grunewald, Abends 18 h unangemeldete Demo in Friedrichshain.

Es ist denke ich das erste Mal, dass eine revolutionäre erste Mai Demo in Friedrichshain stattfindet. Nichtsdestotrotz sind die letzten revolutionären Demos so langweilig gewesen, dass ich wenig Lust habe hinzugehen. Zehn Kilometer im Marschschritt sind nichts für mich, außerdem war letztes Jahr die Grunewalddemo sehr nett. Sekt trinken beim Laufen, gute Technomusik, ganz viel politische Sticker kleben, gute Plakate über Privateigentum und ironische Forderungen, die die alltägliche Rhetorik über „Sozialschwache“ auf reiche Randbezirke ummünzt.
Sehr nett war außerdem der Mangel an Polizist*innen. Dieses Jahr waren mehr von ihnen angekündigt und gleich in dem S-Bahntunnel wurden Leute in Empfang genommen und wegen dem Besitz von Eddings und dergleichen gefährlichen Waffen angehalten. Die Polizeiwarnungen im Vorfeld zeigen Wirkung, wir und unsere Mitdemonstrant*innen gehören eh nicht zu militanten Gruppen, und die Bullerei kann ihr Geschäft unbeanstandet abwickeln.

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Bouletten sind kleine Hackfleischklöße

Aus dem Jahr 2019

Bouletten sind kleine Hackfleischklöße. So werden sie im Nordosten genannt, also auch in Berlin. Bullen sind nicht nur Tiere, die „Muh“ machen und ohne Grund losrennen, meist werden Polizisten damit gemeint und eigentlich werden sie öfter Bullen als Polizisten bezeichnet. Wer die Menschen, die vom Staat bezahlt werden, um für Ordnung zu sorgen, Eigentum oder die Verfassung zu schützen, als Polizisten bezeichnet, muss es wirklich wollen. Tatsächlich kommt es nicht selten vor, dass in Zusammenhängen, in denen man weiß, dass das Wort „Bulle“ vielleicht nicht gesagt werden sollte, man kurz überlegt: „Wie sagt man schon?“, „Polizist?“, „Wird es nicht komisch klingen?“.
Und dann heißt auf Französisch Boulette zwar der Fleischkloß aber auch ein Fauxpas, sprich ein Patzer.
Damit ist schon fast alles über das Thema gesagt. Fast alles, denn es ist kaum möglich über Bullenpatzer zu erzählen, ohne die Gefahr, die von ihnen ausgeht, zu erwähnen.

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Umgangsformen in Konfliktsituationen

Aus dem Jahr 2019

Berlin ist ruppig. Zum Beispiel, gestern Nacht im Café Poznan. Das Café Poznan ist übrigens eine kitschige Kneipe auf der Karl-Marx-Allee, die schon bevor das Wort Hipster auf den europäischen Kontinent gelandet ist, aus unerklärlichen Gründen von coolen Leuten besucht wurde.
Ich saß also mit Freund*innen im Café Poznan oder genau genommen vor dem Café Poznan als die Wirtin, eine große schreiend raus kommt. „Was macht ihr hier, ihr dürft nicht da sein, es ist verboten, verboooten!!!“ Wir sitzen auf einer Baum-Umrandung vor dem Tisch, an dem weitere Freundinnen trinken.

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